Schätzungsbefugnis bei Altkassen, deren objektive Manipulierbarkeit sich erst nach Jahren des Gebrauchs nachträglich herausstellt
Nach der am 11.4.2024 veröffentlichten Entscheidung des BFH v. 28.11.2023, X R 3/22, stellt die Verwendung eines objektiv manipulierbaren Kassensystems grundsätzlich einen formellen Mangel von hohem Gewicht dar, da in einem solchen Fall systembedingt keine Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenaufzeichnungen gegeben ist. Der in der Verwendung einer solchen objektiv manipulierbaren elektronischen Registrierkasse einfacher Bauart liegende formelle Mangel begründet jedoch dann keine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige in überobligatorischer Weise sonstige Aufzeich nungen führt, die eine hinreichende Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenerfassung bieten.
Sachverhalt:
Der Kläger erzielte in den Streitjahren 2011 bis 2014 Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus einem von ihm im Jahr 1999 eröffneten Restaurant. Er nutzte seit 1999 eine von ihm nach eigener Angabe bereits gebraucht erworbene elektronische Registrierkasse.
Im Rahmen einer Umsatzsteuer-Nachschau sowie einer nachfolgenden Außen- und schließlich Fahndungsprüfung legte der Kläger für alle Öffnungstage des Prüfungszeitraums fortlaufend nummerierte Tagesendsummenbons (Z1-Bons) vor. Auf diesen waren lediglich die täglichen Erlössummen - getrennt nach Umsatzsteuersätzen sowie nach Restaurant- und Außer-Haus-Umsätzen - ausgewiesen.
Die Aufteilung nach Zahlungswegen (Bar- oder Kartenzahlung) wurde nicht in der Registrierkasse vorgenommen, sondern vom Kläger in dem täglich erstellten Formular "Kassenabrechnung" handschriftlich ergänzt. Weitere Ausdrucke der Registrierkasse (zum Beispiel Journale, Kellnerberichte, Rechnungen) oder Einnahmenursprungsaufzeichnungen legte der Kläger nicht vor. Eine Bedienungsanleitung der Kasse war bei ihm vorhanden, nicht jedoch Protokolle über Änderungen der Programmierung oder Einstellungen.
Das Finanzamt sah die Aufzeichnungen des Klägers nicht als ordnungsgemäß an, nahm hinsichtlich der Restaurantumsätze eine Vollschätzung der erzielten Erlöse vor und erließ entsprechende Bescheide über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für die Streitjahre. Nach erfolglosen Einsprüchen wandte sich der Kläger an das Niedersächsische FG.
Im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens erhob das FG Sachverständigenbeweis zu der Frage, ob das von dem Kläger verwendete Kassensystem Manipulationsmöglichkeiten eröffnete oder ob Manipulationsmöglichkeiten gerätebedingt ausgeschlossen werden können. Im Ergebnis gab das FG der Klage nur zu einem kleinen Teil statt und wies sie im Übrigen ab (Niedersächsisches Finanzgericht v. 13.4.2021, 12 K 93/18). Zwar gebe es keinen Nachweis dafür, dass der Kläger die Kasse tatsächlich manipuliert habe. Es stehe aber objektiv fest, dass an der Kasse Umprogrammierungen vorgenommen worden seien. So seien der Ausdruck des Gesamt-Speichers und des Journals unterdrückt und die Erstellung von (manuellen) Proforma-Rechnungen möglich gewesen. Damit sei die Kasse nicht ordnungsgemäß. Insbesondere sei ohne ein Journal nicht sichergestellt, dass sämtliche Betriebseinnahmen der Besteuerung zugrunde gelegt worden seien. Die vom Kläger verwendete Kasse sei objektiv manipulierbar.
Hiergegen wendet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das vorinstanzliche FG.
Zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach darf der Tatrichter sich nicht mit der bloßen Benennung formeller oder materieller Mängel begnügen, sondern muss diese auch nach dem Maß ihrer Bedeutung für den konkreten Einzelfall gewichten. Eine Vollschätzung unter vollständiger Verwerfung der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ist nur zulässig, wenn die festgestellten Mängel gravierend sind. Vorliegend entsprechen die Aufzeichnungen des Klägers nicht in allen Punkten den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO und weisen daher formelle Mängel auf. Diese Mängel liegen allerdings weder in dem vom vorinstanzlichen FG angenommenen Umfang vor noch kommt ihnen das vom vorinstanzlichen FG angenommene Gewicht zu.
Die Verwendung eines objektiv manipulierbaren Kassensystems stellt zwar grundsätzlich einen formellen Mangel von hohem Gewicht dar, da in einem solchen Fall systembedingt keine Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenaufzeichnungen gegeben ist. Das Gewicht dieses Mangels kann sich in Anwendung des Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzgrundsatzes aber im Einzelfall auf ein geringeres Maß reduzieren. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kassensystem zur Zeit seiner Nut zung verbreitet und allgemein akzeptiert war und eine tatsächliche Manipulation - wie im Streitfall - unwahrscheinlich ist.
Der Streitfall ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass die Software der vom Kläger verwendeten Kasse bereits in den Jahren 1987 und 1988 geschrieben und die Kasse nach 2002 nicht mehr in Deutschland vertrieben worden ist. Der Einsatz derart einfacher Kassenmodelle wie im Streitfall ist spätestens mit dem Inkrafttreten des § 146a AO am 1.1.2020 unzulässig geworden. Nach Auffassung der Finanzverwaltung durften derartige Systeme sogar nur längstens bis zum 31.12.2016 eingesetzt werden (vgl. BMF?Schreiben v. 26.11.2010, BStBl I 2010, 1342), so dass sie in der Praxis spätestens seit diesem Datum nicht mehr in nennenswertem Umfang genutzt worden sein dürften. Die Schlussfolgerung, dass dieses in den Betrieben seit über 20 Jahren eingesetzte Kassenmodell objektiv manipulierbar ist, ist ersichtlich erst im Laufe der Zeit gewachsen. Wenn die Finanzverwaltung selbst die Nutzung derartiger Kassen bis zum Jahr 2016 und damit über den streitigen Zeitraum hinaus akzeptiert hat, mussten die Steuerpflichtigen nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie mit der Nutzung gegen zwingende Vorschriften der Abgabenordnung verstoßen und allein damit einen Anlass zur Schätzung geben würden.
Der in der Verwendung einer solchen objektiv manipulierbaren elektronischen Registrierkasse ein facher Bauart liegende formelle Mangel begründet dann keine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige in überobligatorischer Weise sonstige Aufzeichnungen führt, die eine hinreichende Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenerfassung bieten (vgl. zu dieser Möglichkeit bei Registrierkassen einfacher Bauart bereits Senatsbeschlüsse vom 11.1.2017, X B 104/16, BFH/NV 2017, 561, v. 23.2.2018, X B 65/17, BFH/NV 2018, 517). Bei elektronischen Registrierkassen einfacher Bauart werden Funktionen und Stand der festen Programmierung (Firmware) durch die Bedienungsanleitung dokumentiert. Änderungen von Einstellungen der Kasse sind vom Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Vornahme der Änderungen durch Anfertigung entsprechender Protokolle über die vorgenommenen Einstellungen zu dokumentieren (Präzisierung des Senatsurteils vom 25.3.2015, X R 20/13, BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 26 ff.).
Beratungshinweis:
Die Besprechungsentscheidung des BFH vom 28.11.2023 behandelt die Schätzungsbefugnis der Finanzverwaltung bei älteren Registrierkassen und objektiv manipulierbaren Kassensystemen. Der X. Senat des BFH entscheidet zugunsten des Klägers, der zwar eine grundsätzlich manipulierbare Altkasse verwendet hatte, dem eine tatsächliche Manipulation der Kasse allerdings nicht nachgewiesen werden konnte. Das Urteil gibt wertvolle Hinweise für die Abwehrberatung und zum Umfang der Feststellungen zu formellen oder materiellen Mängeln der Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die das Finanzgericht selbst zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach treffen muss.
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Der Autor: Dr. Alexander Kersten - Rechtsanwalt, Steuerberater und geschäftsführender Partner bei STEIN Rechtsanwälte Steuerberater in Köln. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Stollfuß Verlags – Zweigniederlassung der Lefebvre Sarrut GmbH – zur Verfügung gestellt. Der Beitrag wurde im Newsletter eNews Steuern, Nr. 15/2024 vom 16.04.2024 veröffentlicht